Andere machten Geschichte, ich machte Musik. Die Lebensgeschichte des Dirigenten Kurt Sanderling in Gesprächen und Dokumenten. Erfragt, zusammengestellt und aufgeschrieben von Ulrich Roloff-Momin.

Im Dezember 2002 ist mein Buch:

„Andere machten Geschichte – ich machte Musik“
Die Lebensgeschichte des Dirigenten Kurt Sanderling in Gesprächen und Dokumenten

im Parthas Verlag, Berlin
erschienen.

 

Pressestimmen zum Buch

 

Jan Bachmann in der Berliner Zeitung, 9.12.2002:

400 g Ballet, 200 g Donkosaken, 200 g Geiger und 100 g Pianist – Längst überfällig: Die Biografie des Dirigenten Kurt Sanderling, von ihm selbst erzählt

Der Bahnhof Alma Ata hätte zur Endstation werden können. „Vom Frühjahr 1941 an hatte ich angefangen, Veronal zu horten, ich wollte auf keinen Fall den Nazis in die Hände fallen. Ich hatte also eine genügende Menge, und jetzt war nur noch die Frage, wo wir uns ein Plätzchen suchten, wo wir in Ruhe liegen und einschlafen konnten und uns niemand weckt.“ Kurt Sanderling, von 1960 bis 1977 Chefdirigent des Berliner Sinfonie-Orchesters, erzählt das fast beiläufig.

Im Jahr 1935 war die jüdische Familie Sanderling aus Deutschland ausgebürgert worden. Kurt Sanderling, zuvor Klavierbegleiter an der Berliner Kroll-Oper, dann im Jüdischen Kulturbund, emigrierte in die Sowjetunion, nicht aus politischen Gründen, sondern weil im übrigen Ausland kein Verwandter ihn aufnehmen wollte. Sein Onkel in Moskau verschaffte ihm 1936 ein Visum mit Arbeitserlaubnis. Im Herbst 1941 wurden Sanderling und seine erste Frau in Viehwaggons nach Alma-Ata evakuiert. Der deutsche Vormarsch und die extreme Not nahmen jede Aussicht auf ein Weiterleben. „Nachdem wir drei oder vier Tage auf dem Bahnhof übernachtet hatten – ich erinnere mich noch an Marmorfliesen, und daß wir immer um zwei Uhr früh mit Tritten aufgescheucht wurden – beschlossen wir, jetzt ist Zeit für das Veronal.“

Genau an diesem Tag traf Sanderling einen Mitarbeiter des Kulturministeriums, der ihm die Nachricht überbrachte, daß er nach Nowosibirsk weiterreisen und zweiter Dirigent des besten Orchesters der UdSSR werden sollte – der Leningrader Philharmoniker. In dieser Position arbeitete Sanderling bis 1960. Daß dieser Mann Wichtiges zu erzählen wüßte, war seit langen klar. Nur hatte er immer hartnäckig geschwiegen. Zu leicht hätte der Eindruck entstehen können, er wolle im Nachhinein ein Tribunal gegen die Sowjetunion veranstalten. Das aber habe ihm ferngelegen. Diesem Land verdankte er sein Überleben als deutscher Jude.

Ulrich Roloff-Momin, ehemals Berliner Kultursenator, hat Sanderling zum Sprechen gebracht. Fast sechs Jahre hat er den Dirigenten befragt, der am 19. September 2002 seinen 90. Geburtstag feiern konnte. Entstanden ist eine erzählte Autobiografie, ergänzt um Außenansichten von Kollegen, Freunden, Verwandten und wenige Dokumente. Das Buch hebt sich wohltuend ab von der Ramschware an Dirigentenbiografien, die zur Zeit den Markt überschwemmt. Es schwatzt nicht, es hat etwas zu sagen.

Da werden die für Stalin veranstalteten Staatskonzerte beschrieben: „400 Gramm Ballett, 200 Gramm Donkosaken, 200 Gramm Geiger und 100 Gramm Pianist, und das Ganze durfte nicht länger als eine Stunde dauern.“ Und dann kommt der Nachtrag, „daß der Zweite Satz der Fünften Schostakowitsch-Sinfonie eine Persiflage auf so ein Konzert ist.“ Hier schließt erinnertes Leben eine Kunst auf, die sich verschließen mußte, um zu überleben. Der Freundschaft mit Dmitrij Schostsakowitsch verdankte Sanderling auch sein eigenes Überleben. Zum XIX. Parteitag der KPdSU im September 1952 wurden wieder die üblichen Schlachtopfer der „Selbstreinigung“ dargebracht. Diesmal traf es Sanderling. Die Züge für den Abtransport nach Birobidschan hätten schon bereitgestanden. Schostakowitsch riskierte sein eigenes Leben, indem er bei Stalin persönlich gegen die unteren Parteifunktionäre intervenierte. „Stalin hat nur mit dem Kopf auf seinen Adjutanten gewiesen: ‚Bring das in Ordnung‘.“ Damit war Sanderling vermutlich knapp der Deportation entgangen.

Musikalische Fragen werden in dieser Biografie selten aufgenommen. Einblicke in das Metier des Dirigenten nur spärlich gewährt. Diese Defizite schmerzen bei einem Künstler, der in den letzten 25 Jahren noch einmal internationale Ausstrahlung gewann wie neben ihm allenfalls Günter Wand. Gleichwohl bleibt man dankbar für dieses Buch.

 

Helga Spannhake im SFB-Inforadio 8.12.2002

Anmoderation:
Zum Geburtstag darf man niemals vorher gratulieren, wohl aber doch hinterher, so steht es im Knigge geschrieben.
Und solch einen nachträglichen Glückwunsch bzw. ein Geschenk erhielt jetzt der Dirigent Kurt Sanderling: Im Parthas-Verlag ist drei Monate nach seinem 90. Geburtstag seine Biografie erschienen, unter dem Titel „Andere machten Geschichte, ich machte Musik“.

Redaktionstext:
Der 1912 geborene Kurt Sanderling ist der älteste deutsche Dirigent von Weltruf, dessen Leben stark von den historischen Geschehnissen und gesellschaftlichen Verwerfungen des vergangenen Jahrhunderts geprägt wurde: Vor den Nationalsozialisten mußte er als junger Mann fliehen. Er erhielt ein Visum für die Sowjetunion, dirigierte dort die Leningrader Philharmoniker und erlebte den Stalinismus ebenso wie den Zweiten Weltkrieg. 1960 folgte Kurt Sanderling einem Ruf in seine alte Heimat Berlin und übernahm die Leitung des Ost-Berliner Sinfonie Orchesters. 1977 – mit 65 Jahren gab er seinen Posten als Chefdirigent ab, aber nicht, um sich ins Rentnerdasein zu verabschieden, sondern um mit verschiedenen Orchestern zu arbeiten und sich einen internationalen Ruf zu erwerben. Über all diese Stationen seines Lebens berichtet Kurt Sanderling nun erstmals in seiner Biographie. Und eigentlich sollte das Werk pünktlich zum 90. Geburtstag erscheinen, aber der Produktionsprozeß zog sich länger als erwartet hin. Daß nun eine gedruckte Biographie über das Leben des Dirigenten vorliegt, ist trotzdem einzig der Hartnäckigkeit des Buchautoren Ulrich Roloff-Momin zu verdanken, denn Kurt Sanderling selbst war fest entschlossen, nie über sich zu schreiben.

O-Ton:
Alles was ich zu erzählen hätte ist in kondensierter Form und meist mit schrecklicherem Inhalt schon alles gesagt worden. Warum sollte ich dazu meinen Senf geben. Und ich habe mich verzweifelt gewehrt, das geben Sie zu. Und irgendwann hab ich dann mal so bißchen ja gesagt. Aber da war es schon vorbei, da war das geschehen, was mein wunderbarer Kollege Knappertsbusch so formuliert hat: „Wer A sagt, muß auch rsch sagen“, so sagte ich halt rsch, und das Resultat liegt nun hier.

Und dieses Resultat das sind einerseits aufgeschriebene Gespräche Kurt Sanderlings mit Musiker-Kollegen und andererseits die ausführliche Schilderung seiner Lebens-und Karrierestationen, und zwar als erzählte Biographie, denn Autor und Dirigent trafen sich mehrfach zu Gesprächen, und dieses Frage-Antwort-Prinzip enthält auch das Buch. Für Kurt Sanderling eine Form, die durchaus Vor- und Nachteile beinhaltet:

O-Ton:
Zum Vorteil, weil eine gewisse Unbefangenheit der Unterhaltung da war. Auf der anderen Seite hat mich das natürlich, diese Unbefangenheit, dazu verführt, Dinge nicht bis zum Ende zu erzählen, vielleicht auch nicht mit genügender Tiefenschärfe alles auszuleuchten.

Wer nun beim Lesen der Biographie auf eine umfassende Darstellung der jeweiligen Zeiten mit ihren allgemeinen Umständen hofft, muß zwangsläufig enttäuscht sein, aber sowohl dem Musiker als auch dem Historiker werden interessante Details geboten: So plaudert Sanderling zum Beispiel über seine erste Begegnung mit dem von ihm sehr geschätzten Komponisten Dmitri Schostakowitsch, den er bat, ihm seine 6. Sinfonie einmal vorzuspielen, was Schostakowitsch bereits einen Tag danach auch tat, und zwar laut Sanderling – auswendig und pianistisch vollendet.

Viele politische Aspekte durchziehen ebenfalls das Buch. Sanderling beschreibt seine Fassungslosigkeit über den Hitler-Stalin-Pakt, berichtet über die Blockade Leningrads sowie über sein ganz persönliches Erleben des Zweiten Weltkriegs. Ein weiterer Aspekt ist das Vertrauen, mit wem konnte man reden, wer war möglicherweise ein Spitzel? Sanderling spricht über die ständige Angst, die einen begleitete.

Es sind höchst lebendig geschilderte Erinnerungen, die das Buch vermittelt und gerade das macht den besonderen Reiz des Buches aus: Die Erzählform erscheint perfekt geeignet, den Leser in den Bann zu ziehen, denn er kann sich selbst quasi als Gesprächspartner von Kurt Sanderling fühlen.

Abmoderation:
Die Biographie „Andere machten Geschichte, ich machte Musik – Die Lebensgeshichte des Dirigenten Kurt Sanderling in Gesprächen und Dokumenten – Erfragt, zusammengestellt und aufgeschrieben von Ulrich Roloff-Momin“ ist erschienen im Berliner Parthas-Verlag (ISBN 3–932529-35-9)

 

Außerdem:

ZEIT-Mitarbeiter empfehlen CDs und Musikbücher
in „Die Zeit, Nr. 51/2002“:
Volker Hagedorn:
Kurt Sanderling/Ulrich Roloff-Momin: Andere machen Geschichte, ich machte Musik
Parthas Verlag; 431 S., 39,80 EUR

Das Buch ist mittlerweile in der zweiten Auflage erschienen.

Die Herausgabe als E-Book wird vorbereitet.
Andere machten Geschichte, ich machte Musik. Die Lebensgeschichte des Dirigenten Kurt Sanderling in Gesprächen und Dokumenten. Erfragt, zusammengestellt und aufgeschrieben von Ulrich Roloff-Momin.